Küchengeschichte:
Alwin
Reiche, Jülich, Deutschland
Erinnerungen an die schwere
Zeit nach 1945
Ich bin in Schlesien geboren und
1945 nach Jülich gezogen.
Der 2. Weltkrieg war zu Ende. Die
Bevölkerung kehrte langsam aus der Evakuierung zurück.
Es war mühselig, eine feste Unterkunft zu bekommen.
Und das tägliche Essen zu besorgen (ohne Supermarkt!)
war auch ein Problem.
Die „Besitzenden“ - das waren
meistens die Landwirte - verfügten zwar noch über einiges
Viehzeug und Gemüse, aber sie durften ihre Produkte
nicht frei verkaufen. Alles wurde vom Staat beaufsichtigt
und nur über Lebensmittelmarken abgegeben. Das reichte
aber oftmals nicht aus, um die Familie satt zu bekommen.
Aus dieser Not wurde daraus der
sogenannte Schwarzmarkt geboren. Die Städter begaben
sich auf die Dörfer und tauschten bei den Bauern wertvolle
Gegenstände aus dem eigenen Haushalt wie Schmuck, Bekleidung
oder Meißener Porzellan gegen Kartoffeln, Speck und
Gemüse. Davon hatten beide einen Gewinn ohne Steuern
zu bezahlen. Daher nannte man das damals „Schwarzmarkt“.
Der Schwarzmarkt trieb auf allen
Ebenen des menschlichen Lebens die tollsten Blüten.
So gab es beispielsweise keinen
Alkohol zu kaufen. Zur Erntezeit im Herbst wurden deshalb
Zuckerrüben oder Kartoffeln gesammelt und daraus Schnaps
gebrannt. Das musste heimlich geschehen - meistens in
der Nacht -, damit die Behörde von dieser Schwarzbrennerei
nichts erfuhr.
Der Brennkessel, oben mit dem
Korkenzieher-ähnlichen Röhrchen versehen, wanderte im
ganzen Dorf herum. Jeder benutzte ihn, aber alle stritten
ab, dieses „Ding“ jemals im Leben gesehen zu haben.
Aber wehe, wenn beim Brennvorgang
das Röhrchen oben verstopfte, dann gab es Unheil. Eines
Nachts explodierte der Kessel bei unseren Nachbarn und
mit einem lauten Knall flog das Küchenfenster aus dem
Rahmen. Gott sei Dank zur Gartenseite hin und nicht
zur Straßenseite. Die aufgeschreckten Nachbarn haben
wohl gewusst, was da passiert war, sich heimlich ins
Fäustchen gelacht, weil sie verschont geblieben waren,
die Decke über den Kopf gezogen und weiter geschlafen.
Ähnlich war es mit dem Schwarzschlachten.
Die Behörden registrierten alles, jedes Schwein, jede
Kuh und jedes Kalb. Fleisch gab es nur auf Lebensmittelmarken
zu kaufen. Aber alle hatten Hunger und jeder wollte
sich endlich mal wieder mit Fleisch satt essen.
So hat denn ein Bauer heimlich
in der Nacht ein dickes Rind aus dem Stall geführt -
über den Weg durch viel Schlamm und Dreck, damit die
Spuren deutlich zu sehen waren - und heimlich über eine
Hintertür wieder zurückgebracht. Nun kam der Metzger
und die ganze Nacht wurde mit allen verfügbaren Personen
das Tier zerlegt und verwurstet. Am nächsten Morgen
ging der Bauer - noch ziemlich übermüdet - zur Polizei
und erstattete Anzeige. Man habe ihm in der Nacht sein
Rind gestohlen, die Spuren des Transportes seien noch
deutlich zu sehen.
Wenig später kamen die anderen
Ortsbewohner, die heimlich Schnaps gebrannt hatten.
Sie tauschten den Schwarzgebrannten gegen Fleisch und
Eier ein. Aus Schnaps und Eiern ließ sich ein wunderbarer
Eierlikör herstellen.
In der Nachkriegszeit waren viele
Diebe nachts unterwegs. Raps lieferte das erste Öl für
unsere Bratkartoffeln und war daher sehr begehrt. Das
konnte man sich nicht klauen lassen. Also zogen jede
Nacht viele Bürger ins Feld, um den wertvollen Raps
zu bewachen. Mit Schäferhund und Mistgabel bewaffnet,
hat man tatsächlich einige Male Diebe verjagt.
Nach und nach wurde das Leben
erträglicher und man begehrte nach Luxusgütern wie Bohnenkaffee.
Den gab es aber nur in Holland. Die niederländische
Händler machten sich den Mangel in Deutschland zu Nutze
und eröffneten dicht hinter der Grenze reihenweise Geschäfte.
Alle boten diverse Kaffeesorten an z. B Schwarze Katz.
Und die Deutschen fuhren hin.
Mit dem Zug von Jülich nach Herzogenrath, damals gab
es noch eine direkte Verbindung. Mein Nachbar, stolzer
Besitzer dreier eigener Söhne, hat noch schnell drei
Nachbarskinder dazu geliehen. So konnte mehr Butter
und Kaffe eingekauft werden, da jeder Reisende eine
bestimmte Menge an Waren mitnehmen durfte.
Am Grenzübergang in Herzogenrath
musste man stundenlang Schlange stehen und dem Zoll
alle eingekaufte Ware offen hinlegen. Der Zöllner betrachtete
meinen Nachbarn, dessen Frau und die Kinder. Nachdenklich
bemerkt er: „Na ja, sind wohl einige Zwillingsgeburten
dabei.“ Und dann durften alle mit Butter, Kaffee usw.
aus dem für uns gesegneten Holland heimkehren.
Natürlich gab es immer wieder
Schmuggler, die an den Kontrollen vorbei größere oder
kleinere Mengen der begehrten Waren nach Deutschland
brachten. Die Jülicher Polizei sperrte daher nachts
die Rurbrücke und kontrollierte jedes Fahrzeug nach
Schmuggelware.
In dieser „Notzeit“ sind viele
der einheimischen Rezepte entstanden, da man mit wenigen
Produkten nahrhaft und abwechslungsreich kochen musste.
Heute werden diese Rezepte wiederentdeckt wie beispielsweise
die Steckrübensuppe, die wirklich lecker schmeckt.
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