Das euregionale Kochbuch - Rezepte und Geschichten aus der Euregio Belgien-Deutschland-Niederlande
 

Küchengeschichte:

Frau Ine Hellwig, Ransdaal, Niederlande

Ich bin Jahrgang 1954 und kenne die schlechten Jahre im und nach dem Krieg glücklicherweise nur aus Erzählungen.

Der Süden der Niederlande wurde im September 1944 durch die Amerikaner von den Deutschen befreit, aber die amerikanische Front stockte bei Arnheim, sodass die nördlichen Niederlande 1944/45 schwer gelitten haben. Es gab nichts mehr, es war nichts mehr da. Ich weiß von alten Leuten, dass sie im letzten Kriegsjahr und in den Jahren direkt nach dem Krieg sehr gehungert und sogar Tulpenzwiebeln gegessen haben. Ältere Menschen haben noch heute körperliche Schäden, z. B. an den Füßen, weil sie in den schrecklichen Jahren kaputte und zu kleine Schuhe tragen mussten.
In den Nachkriegsjahren kamen Deutsche u. a. nach Bocholtz und haben sich satt gegessen. Mitnehmen konnten sie nichts, denn es gab scharfe Kontrollen beim Zoll, dort wurde man quasi ausgezogen.

Wir sind in den 60er und 70er Jahren nicht so sorglos aufgewachsen wie die Jugend heute. Ich selbst habe zwar keinerlei Mangel erlebt, aber bei weitem nicht den Überfluss, den es heute gibt. Süßigkeiten in der ungeheuren Menge wie heute gab es natürlich nicht, wir hatten weiße oder dunkle Schokolade. Für Schokolade sind wir auch schon mal extra nach Belgien gefahren, wo es besonders gute Schokolade und Pralinen gab. Coca-Cola und Chips gab es nur zu außerordentlichen Gelegenheiten. Um ein Fahrrad kaufen zu können, haben wir lange sparen müssen. Es war undenkbar, einen Kredit aufzunehmen, um einen Luxusgegenstand sofort besitzen zu können. Heute glauben viele Kinder, ihre Eltern holen sich das Geld aus einer Maschine in der Mauer.

Zu Hause war ich die Älteste von drei Kindern und habe schon mit elf Jahren kochen müssen, es aber auch immer sehr gerne gemacht.
Wir haben gekocht und gegessen, was es in der Saison gibt. Vom Opa, der einen großen Garten bewirtschaftete, bekamen wir alles, was wir brauchten, auch Hühner, Kaninchen, Tauben und Fische, die er am Fluss angelte.

Noch heute koche ich gerne und oft zusammen mit meinem Mann, der es mindestens so gut wie ich kann. Er ist deutsch orientiert (seine Großmutter stammte aus Aachen, er selbst ist direkt an der deutschen Grenze in Bocholtz geboren), aber im Gegensatz zu vielen Deutschen, die meiner Beobachtung nach zu Hause wie auch im Ausland gut-bürgerliche deutsche Küche essen, probieren wir viel aus. Wir waren oft im Ausland, haben dort interessante Gerichte gegessen und kochen sie zu Hause nach. Das heißt nicht, dass wir überhaupt keine einheimischen Gerichte mehr kochen. Sehr beliebt in meiner großen Familie ist Großmutters Pudding „Bedcookies“. Er wird aus seiner Form direkt auf eine Platte auf dem Tisch gestürzt und alle essen ihn direkt von dort, nicht wie üblich aus einem eigenen Schälchen. Das ist vor allem für die Kinder ein großes Vergnügen, die so etwas ja nicht kennen.

In unserer Gegend haben wir eine Bergbautradition. In den 1950er und 60er Jahren haben sich viele Indonesier und in ihrem Gefolge Chinesen hier angesiedelt. Das hatte mit dem Ende der niederländischen Kolonialzeit zu tun. Um kochen zu können was ihnen schmeckt, haben sie ihre Gewürze, ihre Gemüse und die Lebensmittel in eigenen kleinen Geschäften verkauft. Wegen Personalmangel im Bergbau wurden direkt nach dem Krieg und in den 50er und 60er Jahren Arbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien, aus Italien, Marokko und Polen geholt. Auch sie brachten ihre Essgewohnheiten mit: Überall gab und gibt es kleine Läden und Schnellimbisse. Dadurch haben sich für sehr viele meiner Landsleute die Essgewohnheiten stark verändert. Die Speisekarte in Süd-Limburg ist vielfältig und international und ebenso die heimische Küche.

An traditionellen Festtagen wie Weihnachten kochen wir Gerichte wie in der Vergangenheit üblich: Für meinen Mann ist das ein Truthahn, für mich Hühnerragout und Kalbsnierenbraten als Rouladen. Wir kochen alle zusammen, die ganze Familie. Auch die Enkelkinder kochen schon mit. Für sie gibt es meistens kleine Platten mit Grillgut, da sind sie beschäftigt und bleiben lange am Tisch sitzen. Wir essen auch immer noch genau wie früher Limburger Sauerfleisch, das ja gar nicht sauer schmeckt, weil es mit Apfelkraut zubereitet wird.

Nach Jahrzehnten des sorglosen Einkaufs in Supermärkten hat sich in unserer Region, in Süd-Limburg, das Einkaufsverhalten sehr geändert. Die Leute kaufen heute in kleinen Läden von Bauern, die ihre landwirtschaftlichen Erzeugnisse nicht mehr großen Abnehmern zu Dumping-Preisen anbieten wollen, sondern direkt vermarkten. Besonders viele ältere Leute, die zeitlich nicht mehr so eingespannt sind, reisen über Land, kaufen in den kleinen Läden und fühlen sich dort wie zu Hause. Sie führen längere Gespräche, sind gut bekannt mit dem Verkäufer und knüpfen auch schon mal Bekanntschaften oder sogar Freundschaften.

Ich selbst gehe ebenfalls so wenig wie möglich in Supermärkte. Ich kaufe in den kleinen Läden und oft auf dem Aachener Markt, wo man übrigens auch viele Produkte aus Süd-Limburg angeboten bekommt. Bei uns dürfen Metzger ihr Fleisch nicht aus fahrbaren Wagen heraus verkaufen, in Deutschland ist das erlaubt. Ein sehr guter Metzger aus Brunssum steht seit mehr als 40 Jahren auf dem Aachener Markt und dort kaufe ich regelmäßig mein Fleisch. Auch mein Brot kaufe ich auf dem Markt oder in deutschen Bäckereien. Das hiesige Brot schmeckt mir nicht, es ist wie Kaugummi.

 

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